Der Brief

Als Moritz Lichtenstern, den U-Bahnperron erreichte, war der Zug gerade abgefahren und der Bahnsteig fast gespenstisch leer. Beinahe, wie in einer Geisterstadt mochte es erscheinen, dachte er und schüttelte  über sich selbst und die von ihm gebrauchte Methapher den Kopf.

Denn das war jetzt vorbei. Er war nicht mehr Verlagsleiter, sondern schon fast zwei Jahre in Pension und mußte nicht mehr Manuskripte nach ihren Methapern und Verkaufsfähigkeit absuchen. Das brauchte er jetzt nicht mehr, sondern konnte sich entspannten. Seine Pension und sein Restleben genießen und das hatte er ganz ehrlich, vor fast zwei  Jahren, als er sich vom Verlag verabschiedet hatte und in den Ruhestand gegangen war, auch vorgehabt.

Ruhestand, wie das schon hieß, igitt und schauderhaft. Da konnte er sich nur schütteln und zittern, ob dieses Klischees, das er, als er sich noch lektorisch betätigt hatte, immer aus den Manuskripiten gestrichen hatte, obwohl das Zittern erwas war, was ihn in letzter Zeit bevorzugt überfallen schien und das ihn, wenn er wiederum ganz ehrlich war, auch berunrigte. Er schaute auf seine Hand, die immer noch den Brief umklammerte, den er vorhin, weil er eingeschrieben zu ihm gekommen war und er den gestrigen Tag nicht in seiner Wohnung verbrachte, vom Postamt abgeholt hatte und die zitterte auch ganz schön.

Zitterte stark und unnatürlich. Sowie völlig unnötig, denn er war jetzt nicht mehr allein auf dem Perron. War doch gerade eine junge Mutter mit einem Buggy, die Rolltreppe hinuntergekommen und hatte sich ein paar Meter neben ihn gestellt. Sie beugte sich zu ihrem Kind hinunter, um dessen Sonnenmützchen zurechtzuschieben und seine Nase zu schneuzen.

Das brachte ihm wieder zu dem Brief zurück und zu der Überraschung, die dieser in ihn ausgelöst hatte, was natürlich der Grund für das Zittern seiner Hände war und nicht etwa ein beginnender Parkinson, wie er insgeheim schon befürchtet hatte, weil sein Vater und sein Großbvatter auch an diesem Nervenleiden gelitten hatten und bei beiden war dann auch noch eine Demenz hinzugekommen, vor der er, der ehemalige Verlagsleiter und Germanist naturgemäß einen Bammel hatte, denn er wollte nicht, wie ein Idiot enden.

War festentschlossen etwas dagegen zu tun und hatte sich, als  ihn die Geschäftsführung vor eineinhalb Jahren in Pension geschickt hatte, um einen  Jüngeren den Verlag leiten zu lassen, fest vorgenommen, nun in seiner Bibliothek  der ungelesen Bücher zu beenden, den Urwald zu erforschen, auf Safari zu gehen,  Gedichte zu schreiben, etcetera.

Das was man sich, als rüstiger Pensionist eben bei der Verabschiedung vorzunehmen pflegt und jetzt, fast zwei Jahre später mußte er sich eingestehen, daß fast nichts davon passiert war.

Das heißt, einige Bücher hatte er natürlich gelesen und Gedichte hatte er ebenfalls geschrieben. Aber das war auch etwas, was ihn beunruhigen und an den Vater denken lassen könnte. Denn das, was da herausgekommen war, war nichts, was er im Starverlag durchgehen hätte lassen.

Absolut nichts davon, war er doch vor ein paar Nächten aus dem Schlaf geschreckt und da war ihm wirklich und wahrhaftig, die schöne Maid auf der grünen Wiese eingefallen, die sich die Äuglein nach dem ungetreuen Geliebten ausweinte.

Er hatte diesen Schwachsinn in seiner taumeligen Schlaftrunkenheit auch aufgeschrieben. Am nächsten Morgen natürlich zerrissen. Es hatte ihn aber mitgenommen, so daß er gestern einen Neurologen aufgesucht hatte, der ihn zwar  beruhigte, ihn aber dennoch den ganzen Nachmittag in rastloser Unruhe durch die Stadt getrieben hatte, so daß er den Postboten, der ihm die eingeschriebene Nachricht überbracht hatte, versäumte und er heute extra, was vielleicht auch ein erstes Demenzanzeichen war, das Postamt aufsuchen hatte müßen und das, was ihm die junge Angestellte mit sichtlichen Migrationshintergrund, dunklen Haaren und einer ebensolchen Brille übergeben hatte, hatte auch nicht gerade dazu beigtragen, ihn zu beruhigen, obwohl sich der Perron nach und nach füllte und sogar ein paar Scater, was natürlich streng veroten war, an ihn vorbeischlängelten. Das bewegte eine strenge Lautsprecherstimme zu einer Durchsage und die junge Mutter hatte das Taschentuch  eingesteckt und hielt ihrem Kind, es war offenbar ein Junge oder doch vielleicht ein kleines Mädchen, eine Rassel unter die Nasse und flötete mit verstellter Stimme betont babyhaft: “Bababa, schau, wie das rasselt mein süßer Kleiner!”

Ekelhaft, wie kindisch junge Mütter wurden, wenn sie sie mit ihren Kleinen beschäftigten. Trotz aller Emanzipation und Studium hatte sich das bis heute nicht verändert und rief in ihm ungute Erinnerungen an die eigene Mutter, Großmutter und ältere Schwester wach, die sich auch nicht entblödet hatten, mit dem kleinen Moritzi in einer idiotischen Kindersprache zu palavern. Und da wunderte man sich, daß die älteren Leute, bevor sie starben wieder in das Reich der Demenz und Verblödung hinüberglitten.

Er wollte sich das ersparen und war auch niemals ein Vater gewesen, der seinem oder seiner Kleinen mit einer idoitischen Rassel vor die Nasse herumgefummelt war. Denn er hatte keine Kinder,  dafür war er als aufstrebender Verlagsleiter immer zu sehr beschäftigt gewesen und Natalie mit der er nur drei Jahre verheiratet gewesen war, war mit dem Aufbau ihrer psychoanalytischen Praxis ebenso so beansprucht gewesen, daß sie das nie von ihm gefordert, sondern diesen Wunsch im Gegenteil stark abgewehrt hatte und jetzt, um wieder auf  das Zitterns seiner Finger zurückzukommen, war Natalie offenbar gestorben und hatte ihm diese Tatsache durch einen Notar mitteilen lassen. Hatte ihm durch diesen auch den Termin ihres Beräbnisses, das in Wien, in ihrer Heimatstadt stattfinden würde, bekanntgegeben und ihm noch ein Briefblatt beigelegt, auf dem sie sich, wie sie erstaunlich einsichtig schrieb, für alles, was sie ihm angetan hatte, entschuldigte und  noch mitteilte, daß ihre Schwester Mathilde, die unglückselige Zwillingsschwester, wie sie sie in den drei Jahren ihrer Ehe manchmal genannt hatte, eine Tochter hatte, die ihm erstaunlich ähnlich sehen sollte.

“Vielleicht solltest du daran bleiben, um nicht genauso schuldig, wie ich, die ich mich in den letzten Stadien meines Krebs befinde und daher Zeit ist, über mich und mein Leben nachzudenken, zu werden, lieber Moitz und entschuldige noch einmal, was ich dir und auch Mathilde, der ich ebenfalls geschrieben habe, antat”,, hatte in dem Brief gestanden und seine Hände zitterten stärker denn je und jetzt war es ganz sicher, daß es kein beginnender Parkinson war, der das veranslaßt, denn er hatte sich vor dreißig Jahren in die Verlagssekretärin Mathilde und nicht in die junge  Analytikerin Natalie verliebt, die gerade in der Tautenzienstraße ihre erste Praxis aufzumachen plante und hatte, wie er ihm  schmerzhaft einfiel und wofür er sich immer noch genierte, gar nicht bemerkt, daß sich Natalie im wahrsten Sinne des Wortes bei ihm eingeschlichen hatte. Denn er hatte wirklich und wahrhaftig erst bei seiner Hochzeit und durch seinen Trauschein mitbekommen, daß er Natalie und  nicht Mathilde Schmidt geheiratet hatte. Das heißt, der Standesbeamte hatte diesen Namen natürlich genannt.

“Fräulein oder Frau Dr. Natalie Schmidt!” und als er sie nach der Tafel darauf ansprach, hatte sie aufgelacht und geantworte “Hast du das  nicht gewußt? Ach seid ihr Männer doch begriffsstützig!”

Und Mathilde, seine erste Liebe, die Verlagsseretärin, als die er sie im Starverlag  kennengelernt und sich in sie verliebt hatte, war  aus seinem Leben verschwunden. Wahrscheinlich war sie in seine Heimatstadt Wien zurückgekehrt, wie Natalie ihm bei einem weiteren Streit spöttisch hingeworfen hatte. Aber dort hatte er, der Feigling, der er war, sich nicht hingetraut, um sich bei Mathilde zu entschuldigen und ihr eingezustehen, daß er so blöd gewesen war, den Unterschied zwischen einer Natalie und einer Mathilde, die  eineiige Zwillinge waren, obwohl sie, wie er jetzt zum wissen glaube, sich charakterlich sehr unterschieden, nicht bemerkt hatte.

Er hatte es nicht bemerkt und Mathilde nicht wiedergesehen. Die Ehe mit Natalie hatte drei Jahre gehalten. Wahrscheinlich da er sich seinen Irrtum und seine Blödheit nicht eingestehen wollte. Dann hatte sie die Scheidung eingereicht, weil er ihr zu langweilig war und er die Leitung des Verlags übernommen und hatte jetzt erst wieder etwas von Natalie, beziehungsweise ihrem Tod gehört, die ihm zu ihrem Begräbnis einlud und ihn aufforderte  Kontakt zu ihrer Schwester aufzunehmen, um nicht so schuldbeladen, wie sie zu sterben und ein Foto von Mathildes Tochter Lily, die ihm angeblich sehr ähnlich sehen würde, hatte sie ihm auch geschickt, dachte er und hätte am liebsten nach dem Bildchen gegriffen, um es sich noch einmal anzusehen, was er aber, da jetzt gerade der U- Bahnzug einfuhr, nicht konnte. So atmete er nur tief durch, griff ein wenig fester nach dem Brief in seiner Hand und folgte dann der jungen Mutter in den U-Bahnzu nach, die den Buggy mit dem kleinen Söhnchen so schnell in den Waggon geschoben hatte, daß er gar nicht dazu gekommen war, ihr,  wie ein Kavalier der alten Schule, der er  war, zu helfen, obwohl er das gern gemacht hältte.