Angekommen

“Angekommen!”, dachte Slavenka Jahoda und schaute ein wenig trübsinnig vor sich hin. Ließ den Kopf mit den kurzgeschnittenen rötlich gefärbten Haaren durch das kleine Atelier gleiten, in das Doktor Hartner sie vorhin geführt und die Türe dann hinter sich geschlossen hatte.

“Dann laß ich Sie allein, damit Sie auspacken und sich in Ihrem neuen Reich ein wenig heimisch fühlen können!”, hatte er, der wohl zwanzig oder waren es schon dreißig Jahre, älter als sie war, zu ihr gesagt und sie dabei wohlwollend väterlich durch seine viereckige Brille angesehen.

“Wenn es Ihnen recht ist, Fräulein Jahoda!”

Er hatte wirklich diese Form gewählt, obwohl sie im Institut gelernt hatte, daß das schon längst veraltet war und man im Deutschen und sicher auch im Österreichischen, jede Frau ab achtzehn, als solche anszusprechen und sie hatte ihren vierundzwanzigsten Geburtstag schon vor zwei Monaten gefeiert, noch bevor sie gewußt hatte, daß ihr Stipendiumsantrag bewilligt worden war und sie den Monat Mai und den Juni, als Stipendiatin am Institut für höhrere Studien verbringen und über den Einfluß von Blogs aufs den Literaturbetrieb forschen würde können.

Das war ihre Dissertation, die sie am Germanistischen Institut von Bratislava schrieb und nach dem das Stipendiuum bewilligt worden war, hatte sie ihren Rucksack und ihre Reisetasche gepackt, war mit dem Bus hierhergefahren und von Doktor Stefan Hartner, der ihr Stipendiumsbetreuer war, in der Bibliothek des Institutes empfangen worden, der sie in das kleine Atelier, das den Stipendiaten zur Verfügung stand, hinaufbegleitet hatte und sie dann wieder in die Bibliothek hinunter bestellt hatte.

“Treffen wir uns in einer Stunde in der Bibliothek, damit wir alles Weitere bresprechen können! Ist Ihnen das recht?”, hatte er wieder in seiner väterlich umständlichen Art gesagt und sie hatte energisch genickt, wobei ihr die frischgewaschenen Haare ins Gesicht gefallen waren, ihm beim Schließen der Türe zugesehen und ließ den Blick nun über das Zimmerchen gleiten, das für die nächsten zwei Monate das ihre sein würde.

Ein Bett, ein Schrank ein Schreibtisch, zwei Sesseln und eine Badezimmernische mit einer WC-Muschel und einer Duschkabine. So weit nicht weiter aufregend und von dem Studentenzimmer, das sie in Bratislava bewohnte, nicht wirklich zu unterscheiden und zu Hause in Kosice, wo sie mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern in einem dieser heruntergekommenen sozialistischen Plattenbauten aufgewachsen war, war es auch nicht schöner gewesen.

So weit so gut und nicht wirklich aufregend. Also die Tasche und den Rucksack auspacken, die T-Shirts und die Jeans in den kleinen Kasten räumen, den Laptop auf den Schreibtisch stellen und die mitgebrachten Bücher auf das Regal räumen, das sich über dem Bett auch noch befand.
Dort hatte vorher nur ein Stadtplan von Wien gelegen, den ihr Dr. Hartner oder ein anderer Institutsmitarbeiter vorsorglich hingelegt hatte, damit sie sich auskennen und in der Stadt zurechtkommen würde. Jetzt standen ihre Bücher da, obwohl sie die für ihre Dissertation  nicht besonders brauchte, denn sie wollte ja das Internat erforschen, beziehungsweise, die literarischen Blogs, die es in diesem gab und darüber gab es noch nicht viel Printliteratur und auch noch nicht sehr viele Dissertationen.

Und um das zu verändern war sie auch hergekommen, obwohl ihr Bratislaver Doktorvater Dr. Jan Prochazka zuerst den Kopf geschüttelt hatte, als sie ihm von ihrem Plan erzählt hatte. Das war ihm zu modern erschienen und er hatte wohl auch nicht wirklich geglaubt, daß Blogs einen Einfluß auf den Literaturbetrieb haben könnten, dann hatte sie ihm die dreitausend Artikel des Blogs, der Eja Augustin gezeigt, in denen die das literarische Lebens Wien der letzten zehn Jahre beschrieben und belebt hatte und er hatte einlenkend  “Wenn Sie glauben, Kollegin!”, gesagt.

Er hatte das altmodische Wörtchen “Fräulein” nicht dabei verwendet, obwohl er sicherlich nicht fortschrittlicher, als Dr. Hartner war oder doch. Sie durfte ihm nicht unrecht tun, hatte er ihr doch vorgeschlagen, sich um ein Erasmus-Stipendium zu bewerben, damit sie nach Wien fahren und am Orte des Geschehens forschen könne, obwohl sich die dreitausend Blogartikel der Eja Augustin im Netz befanden. Aber Dr. Prochazka las, wie er selber eingestand, keine Blogs. Dafür fehlte ihm die Zeit. Sie waren ihm wohl auch zu unwichtig und sie hatte auch nichts dagegen nach Wien zu fahren und sich die Orte des Geschehen von denen, die Bloggerpionierin immer schrieb, selber anzuschauen und hatte auch schon ausgemacht sich mit ihr in der “Alten Schmiede”, sowie im “Literatuhaus zu treffen” und in die Bibliothek des Doktor Hartners wollte sie auch kommen, um sie kennenzulernen.

“Angekommen!”, dachte Slavenka Jahoda also noch einmal und verstaute auch den Rucksack und die schwarze Reisetasche in den kleinen Kasten. Jetzt mußte sie nur noch ein SMS nach Hause schicken, damit die Mutter und der Vater sich keine Sorgen um sie zu machen brauchten.  Die Geschwister waren nicht zu Hause, verbrachte der Bruder Petr doch auch ein Forschungssemester an der University von Massachusetts und die Schwester studierte Medizin in Bratislava.
Dann vielleicht das T-Shirt wechseln, da das blaukarierte mit dem sie hergefahren war, schon einen leicht zerdrückten Eindruck mache, also das weiße mit den lustigen roten Punkten erneut aus dem Kasten nehmen und dann rasch ins Badezimmer huschen, um sich die rote Haarpracht zu frisieren, damit sie vor Dr. Hartner und Eja Augustin  keinen schlechten Eindruck machte und dann hinuntergehen in die Bibliothek, die Bloggerin kennenlernen und mit Dr. Hartner besprechen, wie er sich ihre Stipendiumszeit vorstellte.