Die Doderer-Gasse oder Heimitos Menschwerdung

Was hat der arme Heimito von Doderer, der Offizier und Beschreiber des ersten Straßenbahnunfalls in der Literaturgeschichte, nur getan, daß die 1976 geborene Nadja Bucher, die ich, glaube ich, vom Volksstimmefest kenne, ihn wahrscheinlich genau zu ihrem Geburtstag in der Großfeldsiedlung im Körper der kleinen Marie wiederauferstehen ließ oder das ist falsch, denn er kommt aus dem Körper des Säuglings, den wir dann bis zu ihrem Eintritt ins Gymnasium begleiten, nicht hinaus. Marie lebt aber mit ihren Eltern in der Doderer-Gasse, die grenzt an dem berühmten Architekten Adolf Loos gewidmeten und der wird dort im Körper der kleinen Isa wiedergeboren. Als Marie fünf wird, kommt sie in den Kindergarten der “Kinderfrende”, die Tanten dort werden als Aufsichtspersonen bezeichnet und da Nadja Bucher, die Poetry Slamerin, das alles scharf beschreibt, nehme ich fast an, daß es ihre eigenen Kindererinnerungen sind, die sie da wiedraufleben läßt.

Es ist eines der Geburtstagbücher, das ich mir da jetzt zum Backlistlesen vornehme und Heimio tvon Doderer ist ja sehr interessant. Den habe ich schon als Studentin viel gelesen und dann, als ich die “Berührungen” schrieb, “Die Merowinger” und die “Wasserfälle von Slunj”.

In der “Gesellschaft” hat es ein “Doderer-Smposium” gegeben und Klaus Nüchtern hat auch ein Buch überihn geschrieben und jetzt hat ihn Nadja Bucher wieder auferstehen lassen. Bücher mit Wiedergeborenen sind ja seit “Er ist wieder” offenbar in Mode. Aber hier ist er es gar nicht, sondern befindet sich im Körper der kleinen Marie und begleitet sie bis in ihr zehntes Lebenjahr und ist da von der Idee besessen, daß er durch sie seinen Roman “Nr. sieben” schreiben könnte.

Das ist es eigentlich schon, was wir über Doderer erfahren, der dann Adolf Loos, der im Körper der kleinen Isa, die Marie an ihrem ersten Kindergartentag trifft und die fortan ihre beste Freundin wird. Loos und Doderer unterhalten sich miteinander. Loos hat die Idee, daß die Widergeburt in den Körpern der Kinder, die in den nach ihnen benannten Straßen wohnen, eine Art Strafe für die begangenen Sünden sind.

Bei Doderer könnte man da an die Nazi-Vergangenheit denken. Loos war, glaube ich, in einen Pornographieskandal verwickelt und das Aufwachsen in der Großfeldsiedlung wird auch als sehr gewaltsam beschrieben. Für den Rittmeister ist es wahrscheinlich auch eine Bestrafung in der sozialistischen Großfeldsiedlung die kleine Marie in einem sozialistischen Kindergarten begleiten zu müßen. Das ist wahrscheinlich eine Spitze Nadja Buchers, die einige biografische Details verwendet, dann aber sehr genau das Aufwachsen eines Kinden in den Achtzigerjahren in der Grpßfeldsiedlung beschreibt. Die Tanten sind wie schon beschrieben, Aufsichtspersonen. Dann kommen Kinder, die Marie ihre Puppe wegnehmen wollen und als sie sich beschwert, wird sie in das Matrazzenlager gesperrt, wo es ihr aber gefällt.

In der Volksschule ist die Musterschülerin, Doderer glaubt, daß er ihr seine Begabung weitergeben kann. Loos bestreitet das, obwohl die kleine Isa graphisches Talent hat. Die ist das Kind einer alleinerziehenden Mutter, wird später auch das Gymnasium besuchen und der Karli, der Rowdy in der Siedlung, überfällt die Mädchen auch immer mit seiner Bande. Die wissen sich aber zu wehren und das ist noch interessant, eine bösartige Hausmeisterfigur, den Herrn Lurch,bei dem Marie den Waschküchenschlüßel hinnbringen muß und sie sich vor ihm gruselt. Wo Doderer ja ein Spezialist von Hausmeisterfigurenist und für den Bildungsbürger, der kpmplizierte Romane schrie, wie die” Strudelhofstiege” oder die “Dämonen” schrieb, muß es auch besonders deprimierend gewesen sein, mit den zwei Mädchen irgendwelche Kinderserien im Fernsehen zu sehen, ihren Babriepuppenspielen zusehen und sehr intensiv schildert Nadja Bucher auch, die Gewalt, die die beiden Mädchen im Gmeindebau erleben.

Ein bißchen aufgesetzt fand ich die Szene mit der Pistole. Maries Vater ist Nachtwächter und hat daher eine Dienstpistole. Die läßt er zu Hause liegen. Isa glaubt, sie ist ein Spielzeug und richtet sie auf Marie. Keine Ahnung, ob es da ein Doderer-Vorbild gibt? So viel habe ich von ihm nicht gelesen.

Marie und Isa müßen sich, wie erwähnt, gegen Angriffe der wilden Buben aber auch vor Erwachsenen wehren und tun das auch tapfer. Am Schluß geht Marie mit der bewußten Pistole zu dem bewußten Karli, der aber an der Nadel im Hof liegt und Zahnarztszenen kommen seltsamerweise auch immer wieder vor. Marie bekommt eine Zahnspange und beschließt am Schluß des Buches, da ist ihre Volkshschulzeit vorüber, den Balletunterricht, den sie besuchte, aufzugeben und im Gymnasium Latein zu lernen, um später Zahnärztin zu werden, wo sich der Meister trösten kann, daß auch eine Zahnärztin Romane schreiben kann.

Ob Heimito von Doderer mit Nadja Buchers Sprache einverstanden ist, nicht so klar, habe ich sie doch manchmal kompliziert und auch mit vielen Fremdwörter empfunden. Da ist ihr der Nichtnobelpresträger sicherlich überlegen.

Interessant ist aber jedenfalls die Idee den konservativen Sprachkünstler in die sozialistische Großfeldsiedlung der Neunzehnhundersiebzier- und achtzigerjahre zu verlegen, auch wenn man in dem Buch gar nicht so viel über Doderer als über das Aufwachsen in dieser Zeit und in dieser Gegend erfährt, was mir sehr gefallen hat und auch spannend zu lesen war.